Aus dem “Schaffhauser Magazin.” November 2019

Text Daniela Palumbo Fotos Simone Gloor

In einer Kiste im Keller ihres Elternhauses in Schaffhausen entdeckte Deborah Neininger kürzlich zwischen Playmobilfiguren, die sie ihrem Göttikind schenken wollte, ihr erstes «Theaterbüchlein». Regiesseur stand in kindlicher Schrift auf dem Schulheft geschrieben: Drinnen selbst erfundene Textfragmente für Aufführungen, zu denen die theaterbegeisterte Primarschülerin die Nachbarskinder nötigte. Eine davon hiess «Von Tieren und Menschen in Australien». Ihre Ferien auf dem fernen Kontinent hatten sie zu einer Geschichte über Aborigines inspiriert, die von Kängurus, Koalas und Kormoranen umgebracht wurden, bis schliesslich Friede einkehrte.

Heute schreibt sich Deborah Neininger – ohne Schreibfehler – Regisseurin. Sie ist ein Profi, feiert Erfolge auf Bühnen und im Filmbusiness. Die Spannbreite reicht von Ess-Performances bis zu Serien im Web und Filmen fürs Fernsehen. Die Schaffhauserin lässt sich nicht in Kategorien pressen. Schon während ihres Studiums der angewandten Theaterwissenschaften in Giessen weitete sich ihre vormals starre Vorstellung von der Theaterkunst: «Wenn jemand über die Bühne läuft, ist das Theater. Wenn ein Tropfen von der Decke fällt ebenso», sagt sie. Ein entwaffnendes Lächeln umspielt ihre rotgeschminkten, vollen Lippen. «Als ich 20 Jahre alt war, hatte ich das Gefühl, ganz genau zu wissen, wie Theater funktioniert. Jetzt, wo ich viel mehr darüber weiss, fällt es mir schwer, eine andere Inszenierung einfach so schlecht zu finden. Ausser solche mit sexistischen, rassistischen Inhalten. Ich bin ästhetisch offener, verwirrter.» Die 36-Jährige schaut indes keineswegs konfus drein, sondern versprüht eine geballte Ladung Kraft, obschon das getigerte Haarband, das ihre blonden Haare zähmt, ihr einen mädchenhaften Zug verpasst.

Krimiplot

Ihr winziges Atelier befindet sich in Basel, in einem Altbau in der Nähe des Bahnhofs. Dort brütet Deborah Neininger mit ihrem Ehemann Jan Sulzer neue Ideen aus. Post-its und Whiteboards unterstützen sie dabei, die Einfälle in eine Struktur zu bringen. Das Paar erarbeitet derzeit ein Serien-Konzept. Im Auftrag des Schweizer Fernsehen sollen drei unabhängige Teams eine Krimi-Serie entwickeln. Die Idee von «Sulzer Neininger Film», wie sie ihre Produktionsfirma bezeichnen, kam an. Deborah Neininger verrät nur so viel: Der Plot spielt im Thurgau und die Kommissarin ist eine Frau. Bis Dezember müssen sie die erste Staffel mit sechs Folgen umreissen. Der Pilotfilm soll als Drehbuch stehen. Dann wählt das Fernsehen das überzeugendste Serien-Team aus.

Deborah Neininger kann ihren Erfolg kaum richtig fassen. Sie und ihr Mann waren überrascht diesen Zuschlag zu bekommen. Zweifel wischt sie jedoch ebenso schnell weg, wie sie aufscheinen. «Einfach weitermachen», das funktioniert immer. Schon mehrmals war das Regie-Duo mit der Kriminalpolizei im Thurgau auf Achse. Ihre Spürnasen nach der Realität ausgerichtet recherchierten beide gewissenhaft und stiessen dabei tatsächlich auf Teppichleichen und kopflose Grossmütter. 

Bühnenvariationen

Seit bald zehn Jahren lebt sie in Basel, in der Nähe der Verwandten mütterlicherseits. Dennoch bleibt Schaffhausen ihre «Haamet», sagt sie nostalgisch und augenzwinkernd. Dort wuchs sie auf, besuchte die Kantonsschule altphilologischer Richtung mit Griechisch und Latein und lernte in der Freizeit und in den Ferien im Jugendclub Momoll-Theater die Bretter kennen, die die Welt bedeuten. Zwei bis drei Abende in der Woche stand sie während der Tournee auf einer Bühne als wilde Lotta im orangen Kostüm. Das Stück hiess Tschüss Andrea. «Ich habe gefühlt, wie Theater geht». Sie wusste, es würde kein einfacher Weg werden mit wenigen, finanziell unsicheren Jobs und einer Branche, in der man um alles kämpfen musste.

Führt sie heutzutage Castings für ihre Produktionen durch, haben Bewerber, die im Jugendclub waren, bei ihr einen Stein im Brett. Sie weiss, dass sie durch eine harte Schule gegangen sind, in einem lehrreichen, professionellen Umfeld. Damals merkte sie selbst, dass ihre Rolle auf der Bühne nicht die der Akteurin war, sondern die der Regisseurin. «Ich bin froh, wenn ich nicht selbst auftreten muss. Eine Schauspielerin muss loslassen. Ich bin ein Kontrollfreak und schaue lieber zu, überlege wie es besser geht.» So assistierte sie nach der Matura der Regie am Theater Zürich und hospitierte am Schauspielhaus Zürich. Neben Kaffee machen, Medikamente kaufen, Händchen halten, gelang es ihr, hie und da einige Anregungen einzubringen. 

Jahre später erreichte sie ihren kommerziellen Durchbruch als Theaterregisseurin 2018 mit der Komödie Traumfrau Mutter in einer Mundartversion. Sie landete einen Grosserfolg. Nächstes Jahr wird sie das Stück erneut in der Schweiz inszenieren, in Deutschland führte Deborah Neininger dieses Jahr in einer hochdeutschen Version Regie. Langweilig wird es der Schaffhauserin dabei nicht. Dafür sorgt ihr wacher, rastloser Geist. Sie verändert, variiert, verwandelt die Skripts so weit sie kann, damit keine Monotonie eintritt. Dauernd inszeniert sie das Stück weiter: «Meine Spontaneität ist nervig, das merke ich. Aber sonst werden die Schauspieler bequem», sagt sie scherzend zu ihrer Verteidigung. Doch genau das kostet sie aus. Dass jede Inszenierung anders ist. «Diese Form von Magie fasziniert mich am Theater.» Ebenso geniesst sie das Bad in der Menge, wenn auch unerkannt. Drei bis viermal sass sie in Hamburg während der Aufführung im Publikum. Immer wieder lachte es an einer anderen Stelle. Jeder Abend war einmalig. «Ich spüre wie der Rhythmus im Stück sein muss, obwohl ich nicht musikalisch bin. Ich kann einen Saal voller Leute zum Lachen bringen», sagt sie stolz.

Kunstessen

Ihr Rhythmus auf der Bühne und im Leben ist hoch getaktet. Fast atemlos erzählt sie von ihrem Werdegang, ohne Pause, und trotzdem klar wie der Blick ihrer hellblauen Augen, konzentriert und doch offenherzig, während ihre Hände mit den rotlackierten Fingernägeln unablässig in Bewegung sind. Als Kind kam auch Koch als Traumberuf in Frage. Daher verknüpfte sie, als sie an der Universität in Giessen angewandte Theaterwissenschaften studierte, nicht nur Theorie und Praxis, sondern auch ihre Leidenschaft fürs Essen mit dem Theater. Sie liess sich von der Eat-Art inspirieren, welche die Kochkunst zur bildenden Kunst erhob, adaptierte diese aufs Theater, nannte sie um in Kunst-Isst und schuf mit ihrer Kollegin Laura Lienhard das Label «We Ate Lobster». So entstand zum Beispiel die Performance «ein schlagrahmsüsses Idyll», konzipiert und umgesetzt mit Fanny Frohnmeyer. In 25 Minuten fertigten die beiden Erdbeertörtchen an, verteilten sie an die Zuschauer und Deborah Neininger las, während das Publikum ass, einen Text von Klaus Mann vor, der Hitler einst beim Kauf von Erdbeertörtchen in einer Bäckerei beobachtet hatte. So brach Hitler in eine heile Zuckerbäckerwelt ein.

Sechs Jahre verbrachte Deborah Neininger in Giessen und ein Jahr in Griechenland als Küchenhilfe in einer Taverne. In jeder ihrer Inszenierungen kommt Essen vor. «Ich schaue gerne zu, wie jemand isst. Ich koche jeden Tag und esse alles gern.». Ihr Gesicht strahlt beim Gedanken an die kulinarischen Genüsse noch stärker. Kochbücher stapeln sich zu Hause. Auf Reisen erkundet sie fremde Küchen, orientiert sie sich nach Restaurants. Das bringt ihr ein wenig Ruhe. «Ich lese Kochbücher zum Einschlafen. Essen ist Entspannung.»

Trauerarbeit

Nicht nur heitere, humorvolle Geschichten, sondern auch ernste Themen beschäftigen die Künstlerin. Oft taucht die Frage auf: Was passiert, wenn jemand stirbt? Was wird von einem erinnert? Ihre Abschlussarbeit in Giessen widmete sie etwa der Biografie von Klaus Mann. Alle Passagen in seinen Werken, in denen er über Alltagsphänomene wie Essen, Trinken, Filme, Reisen, schrieb, sammelte sie und montierte die Texte zu einem Theaterstück über sein eigenes Leben. Die Choreographie liess Schauspieler Spiegeleier kochen und Spontaneität zu. Eine Zigarette kreiste unter den Akteuren. Wer sie weiterreichte, musste seinen Text vortragen. 

Mit dem Tod ihres Vaters, Norbert Neininger, der jahrelang Verleger und Chefredaktor der «Schaffhauser Nachrichten» war, bekam das Thema eine neue Dimension. Die Trauer um ihn veränderte sie, brachte ihren Takt durcheinander, erlaubte ihr und anderen fortan kleine Pausen, Auszeiten. Sie erkannte: «Theater ist nicht das Leben.»

Kurz nach seinem Tod 2015, am Treibstoff-Festival Basel, leistete sie mit dem Stück «Komm auf meine Seite», Trauerarbeit. Mehrere Schauspieler verwandelten eine Wohnung in ein Stillleben. Theaterbesucher, die im ersten Moment verunsichert glaubten, sie seien in einer Privatwohnung gelandet, statt in einem Theater, weil eine Frau mit einem Baby sie empfing, erlebten in jedem Raum eine andere Szene zwischen dekorativ verstreuten Esswaren. Deborah Neininger sass, innerlich sehr traurig, in weisser Kleidung vier Stunden in einem Zimmer voller Eier und Schnecken in Terrarien. Jeden Abend musste sie die Weichtiere nach Hause nehmen und aufpäppeln, damit sie die zwei Wochen der Performance überlebten. Diese kontemplative Phase half ihr, sich der Trauer um ihren Vater hinzugeben. 

Webserienpioniere

Über ihren Ehemann Jan Sulzer gelangte sie vom Theater in die Filmwelt. Schon 13 Jahre ist sie mit ihm zusammen, seit 2013 verheiratet. Die Webserie «Güsel – Die Abfalldetektive» verpasste ihnen den Ruf als «Pioniere für seriellen Webcontent». Der Schaffhauser Gabriel Vetter hatte das Drehbuch geschrieben, Deborah Neininger und Jan Sulzer führten Regie geführt, machten den Schnitt und übernahmen die Produktion. Das Schweizer Fernsehen hatte diese Mini-Serie finanziert. Seither sind sie schweizweit bekannt und ein gefragtes Regie-Team auch für Werbeaufträge wie TV-Serien-Spots für die Migros und Schweiz Tourismus. Nun konzentriert sich ihre Kreativität auf die Entwicklung der Krimi-Serie.

Beide ergänzen sich. Auf die Stärken seiner Frau angesprochen antwortet der Ehemann: «Sie ist sehr schnell im Reden und Denken, hat ein unglaubliches Sprachempfinden und ist sehr lustig mit ihrem schrägen, absurden Humor.» Dieser kommt auch beim Krimischreiben nicht zu kurz. «Aber ich gehe nicht mehr leichtfertig mit Leichen um, seit mein Vater gestorben ist. Ich bin verletzlicher, durchlässiger geworden. Mich berührt vieles mehr», sagt sie. 

Trotz der engen, symbiotisch anmutenden Zusammenarbeit des Paares bewahren beide im Privatleben etwas Eigenes. Sie pflegen einen unterschiedlichen Freundeskreis, er seine Strassenfotografien und sie ihre Malerei. Den ganzen Tag – auch an Sitzungen kritzelt Deborah Neininger mit Farbstiften Linien – die sich zu einem Bild fügen wie Mandalas – auf weisses A-4-Blockpapier. «Ich kann mich so besser konzentrieren.» Ein paar Blätter, darunter ein Selbstporträt, hängen in einer Ecke des Ateliers an den Wänden, auf ihrem Instagram-Account «Monkeydoodling» sind sie öffentlich einsehbar. Die Kritzeleien lenken sie ab von den dunkleren Seiten des Lebens. Deborah Neininger muss schnell verarbeiten, was sie aufnimmt  und es wieder der Welt zurückgeben, mit Humor versehen.

Grenzgänger

Seit drei Jahren beschäftigt sich das Paar nebenher mit einem Tabuthema: Jugendliche und Psychiatrie. In «Twenty Four» hatte Deborah Neininger bereits allein eine Performance realisiert in Zusammenarbeit Jugendlichen aus der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel, die ihren Empfindungen in eigenen Worten auf der Bühne – gespielt von Schauspielern – Ausdruck geben konnten. Aus dem in der Zwischenzeit in der Klinik gesammelten, gewaltigen Filmmaterial entsteht nun ein Langzeitdokumentarfilm. «Unser Liebhaberprojekt», sagt sie. Warum? «Weil ich selbst spinne», antwortet die Regisseurin selbstironisch. Ihr Ausdruck wird plötzlich merklich ernster. Sie verstehe, warum Teenager in der Jugendpsychiatrie landen. Für einen kurzen Moment lüftet Deborah Neininger den Vorhang und gewährt einen Blick hinter ihre strahlende Fassade– «Im Grunde bin ich ein pessimistischer Mensch», sagt sie. «Die Welt macht mir Angst. Ich weiss aus eigener Erfahrung wie unscharf die Grenze zur Normalität ist und dass die eine als Teenager im Theater, die andere in der Psychiatrie endet.» Sie selbst hatte Glück, und rettete sich in eine Parallelwelt, wo man schlechte Nachrichten in Erdbeertörtchen versenken und mit skurrilem Humor meistern kann. «Auch in traurigen Situationen kann man manchmal lachen.»